Von Usability zu Barrierefreiheit: Lernen wir aus der Vergangenheit?

28.05.2024   Prof. Dr. Simon Nestler

Es ist schon verrückt, oder? Die Menschen, die uns vor 25 Jahren gebeten haben, am Ende ihres Softwareentwicklungsprojekts noch schnell die Usability einzubauen, und denen wir damals erklärt haben, dass das so nicht geht, sind immer noch da. Jetzt kommen sie wieder zu uns und sagen: "Könnt ihr jetzt am Ende noch schnell Barrierefreiheit einbauen?" Aufgrund des Barrierefreiheits-Stärkungsgesetzes müssen sie das nun nachträglich bis Juni 2025 umsetzen, obwohl sie sich vorher nie darum gekümmert haben. Jetzt entstehen natürlich zahlreiche Seminare, in denen wir in zwei Stunden ein bisschen etwas zur digitalen Barrierefreiheit vermitteln. Ein Nachmittag für digitale Barrierefreiheit? Leute, das könnt ihr euch sparen! Was wollt ihr an einem Nachmittag erreichen, wenn ein kompletter Perspektivwechsel notwendig ist? Ihr müsst euch wirklich mit all den verschiedenen Richtlinien und Prinzipien auseinandersetzen. Deshalb haben wir versucht, das Ganze kompakt zu machen und ein Seminar entwickelt, in dem ihr das Thema in 40 Stunden behandelt. Auch das ist nicht viel Zeit. Es ist eine Arbeitswoche, die ihr investieren müsst, um euch wirklich mit digitaler Barrierefreiheit auseinandersetzen zu können. Überall schreiben wir uns Menschzentrierung und Barrierefreiheit auf die Fahnen. Meine Frage ist immer: Ja, wenn ihr das als Ziel anstrebt, was muss passieren, damit ihr scheitert? Was muss passieren, damit ihr das Ziel nicht erreicht? Wie müssen eure Nutzerzahlen aussehen? Wie viele Beschwerden müssen eingehen? Wie lange müssen Bearbeitungszeiten sein? Wie viele Fehler darf es geben, damit ihr sagt, dass eure Qualitätsstandards im Bereich der Menschzentrierung nicht erreicht sind? Häufig sehen wir nur, dass es ein Ziel ist, aber es gibt keine Überlegungen, wie wir diese Dinge eigentlich messen wollen. Wenn ich keine Strategie im Bereich der Menschzentrierung habe, fällt es mir natürlich schwer, Barrierefreiheit in dieses nicht existierende Gerüst vernünftig zu integrieren. Die Forderung nach höherer Barrierefreiheit ist daher eigentlich ein Weckruf für uns alle, mehr für Menschzentrierung zu tun und diese wirklich zu quantifizieren.

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