Warum ist Prüfprozess für digitale Barrierefreiheit nicht inklusiv?

28.05.2024   Prof. Dr. Simon Nestler

Ich beschäftige mich zurzeit intensiv mit Barrierefreiheit und der Prüfung dieser anhand der WCAG. Oft höre ich die Frage, ob wir diesen Prüfprozess auch für Menschen mit Behinderungen durchführen. Ist der Prüfprozess so gestaltet, dass auch Menschen mit Behinderungen ihn durchführen können, um auf Barrieren hinzuweisen? Meine Antwort ist kontrovers, aber eindeutig: Nein, das geht in vielen Fällen nicht. Wenn der Prüfprozess multimodale Interaktionen, Modalitäten und deren Ersatz oder multisensorische Interfaces umfasst, ist es notwendig, dass man alle Sinne wahrnehmen kann. Ein einfaches Beispiel: Ich kann nur dann beurteilen, ob der Alt-Text korrekt ist, wenn ich den Text lesen und das Bild sehen kann. Ich kann nur entscheiden, ob der Quelltext sinnvoll geordnet ist, wenn ich den Quelltext und die Darstellung vergleichen kann. Ebenso kann ich nur dann entscheiden, ob Untertitel zu dem Gesprochenen passen, wenn ich das Gesprochene hören und die Untertitel lesen kann. Der Prüfprozess für Menschen mit Behinderungen ist insofern relevant, als er es ermöglicht, dass Menschen mit Behinderungen damit interagieren können. Aber der Prüfprozess selbst ist nicht inklusiv. Auf einen Menschen mit Behinderung kommen etwa neun Menschen ohne Behinderung. Es ist also die Aufgabe der neun, Teilhabe zu ermöglichen, nicht die Aufgabe des Einzelnen, sich zu inkludieren. In Diskussionen mit Studierenden frage ich oft nach dem zentralen UX-Prinzip. Wenn jemand auf der Straße gefragt würde, welches Prinzip die User Experience überragend macht, gibt es viele unterschiedliche Antworten: Es soll ästhetisch ansprechend, intuitiv, einfach oder konsistent sein. Diese Diskussionen sind intensiv und es gibt viele gute Prinzipien, aber selten ein zentrales. Doch dann sagt meist jemand: "Menschen zuerst." Und das sehe ich auch als zentrales Prinzip. Im Bereich der digitalen Barrierefreiheit müssen wir überlegen, was "Menschen zuerst" bedeutet. Heißt das, dass jeder Onlineshop, der das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz bis 2025 erfüllen möchte, zuerst Menschen mit Behinderungen kontaktieren muss, um den Shop barrierefrei zu gestalten? Ich denke, "Menschen zuerst" bedeutet, dass die Menschen im Mittelpunkt der Richtlinien stehen, was bereits geschehen ist. Die Web Content Accessibility Guidelines orientieren sich an den Bedürfnissen aller unterschiedlichen Behinderungen, die Mensch-Computer-Interaktionen erschweren. "Menschen zuerst" bedeutet also, dass man diese bewährten Richtlinien umsetzt und zusätzlich im direkten Dialog mit den Betroffenen herausfindet, was darüber hinaus noch berücksichtigt werden muss. Das ist das zentrale Prinzip, das wir im Bereich der digitalen Barrierefreiheit brauchen.

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